»Wir wurden „sozialdemokratische Anarchisten“, wir wurden etwas Unmögliches: „Anarcho-Sozialisten“. Ein Unding! (…) der Durchschnittsmensch (…) muß trachten, mit seiner Gemeinschaft die wirtschaftliche Macht zu erringen, muß – Sozialist sein. Wir wollen die Produktionsmittel zum Eigentum der arbeitenden Menschheit machen. Das wollen wir alle, ob wir uns nun Anarchisten oder Sozialisten nennen. Aber – ich meine – als Anarchist muß man noch mehr wollen: das gemeinsame Eigentum an den Produktionsmitteln darf dem Einzelnen nicht zur Fessel feiner persönlichen Freiheit werden. Ich kann mir vorstellen, daß in einer sozialdemokratischen Zukunftsgesellschaft mit staatlichen Gesetzen und gesellschaftlichen Verpflichtungen der dann gewiß viel höher stehende arbeitende Mensch gerade darum, weil er ganz andere Begriffe von dem Menschenrecht hat, die Fessel dieser Gesetze und Verpflichtungen noch viel drückender empfinden wird als der heutige sozialistisch denkende Lohnarbeiter. Darum erachte ich es als eine Hauptaufgabe des Anarchismus, den sozialistischen Arbeitern zu fagen, daß der Sozialismus nicht das Ende de geschichtlichen Entwicklung sein kann, weil er dem Menschen nicht die volle persönliche Freiheit bringt. „Das Täubchen liebt die sicheren Kreise, Nicht fragend, ob’s gefangen sei; Doch nur der Vogel auf der Reise, Der heimatlose, der ist frei.“ (…) Nach meinem Dafürhalten haben die Anarchisten heute die eine Hauptaufgabe, den Arbeitern immer wieder vor Augen zu halten, daß auch der Sozialismus mit dem Verzicht auf persönliche Freiheit verbunden ist und daß die Kampfgemeinschaft mit den Sozialisten nur soweit reichen darf, als es gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung geht. Eine Verbindung aber von Anarchismus und Sozialismus den Arbeitern vorreden zu wollen, ist eine Täuschung, die sich einmal am Anarchismus selbst rächen muß. – Karl Roche.“
• Die Einigkeit Nr. 23/1910