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Archive for Dezember 2022

Revolutionäre Postkarten

Anfang November 2022 erschien der Sammelband „Mit revolutionären Grüßen – Postkarten der hamburger Arbeiterbewegung 1900-1945“ (VSA Hamburg, 280 Seiten, Ladenpreis 24,80 Euro). Im November gab es hierzu in Hamburg vier Ausstellungen.

René Senenko (Hrsg.)

»Mit revolutionären Grüßen«

Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900–1945 für eine Welt ohne Ausbeutung, Faschismus und Krieg

288 Seiten | Hardcover | Farbe | In Kooperation mit: Olmo e.V. – Verein für Kultur und Erinnerungsarbeit zwischen Ohlsdorf und Ochsenzoll, Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Rosa-Luxemburg-Stiftung u.a. | 2022 | EUR 24.80
ISBN 978-3-96488-108-3

https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/mit-revolutionaeren-gruessen/

Hier findet ihr auch das Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe.

Wir veröffentlichen hier unseren Beitrag in diesem Buch auf unserer Homepage. Er ist im Buch unwesentlich verändert.

Wir möchten auch auf den Beitrag von Werner Skrentny hinweisen: Ein (fast) vergessener Künstler – Hein Semke aus Hamburg-St.Pauli

Anarchisten im »Roten Bollwerk«

Folkert Mohrhof und Jonnie Schlichting

»Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft
Anarchismus in Hamburg, Altona und Umgebung

Der arbeitslose Schlachtergeselle Kurt Gustav Wilckens (1886–1923), wanderte im September 1920 nach Argentinien aus und erschoss in Buenos Aires am 15. Januar 1922 den berüchtigten Oberst Varela, der zuvor 1.500 streikende Landarbeiter in Patagonien niedermetzeln ließ. Vor seinem Prozess wurde der aus Bad Bramstedt stammende Anarchist in seiner Gefängniszelle am 15. Juni 1923 von einem studentischen Mitglied der faschistischen Patriotischen Liga erschossen. Auch einhundert Jahre nach seiner Tat wird Kurt Wilckens in Argentinien von der organisierten Arbeiterschaft als proletarischer Held und Märtyrer verehrt ob seines Mutes und seiner Opferbereitschaft. Hieran erinnert die Postkarte der Hamburger individual-anarchistischen Zeitung »Alarm« aus dem Jahre 1924.


»Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.« – Immanuel Kant (1798)
»Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die grosse produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu halten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen.« – K. Marx & F. Engels (1872)
»Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.« – Herbert Wehner (1923)

Anarchisten im ‚roten Bollwerk’
Ja, es gab sie, die Anhänger der Lehren von Bakunin und Kropotkin, in der sozialdemokratischen Hochburg, dem »roten Bollwerk« Hamburg.

Die Häfen von Hamburg-Altona waren schon während des Sozialistengesetzes der Umschlagplatz für sozialistische und anarchistische Literatur aus London. Johann Mosts revolutionär-sozialistische Freiheit und die anarcho-kommunistische Autonomie wurden von hier aus durch Genossen in das ganze Kaiserreich versandt. Ebenso Mosts Flugschrift »Die revolutionäre Sozialdemokratie« (1880) und das einseitige Flugblatt »Arbeiter« (März 1885), das vor allem August Reinsdorf verteidigte. Deren Verbreitung wurde natürlich durch die Polizeibehörde verboten. Im Januar 1893 ereilte auch Mosts »Die anarchistischen Kommunisten an das Proletariat« dies Schicksal.

Die Anarchisten zweifelten daran, dass über Wahlen und das Parlament der Sozialismus errungen werden konnte – sie setzten auf den sozialen Generalstreik. Sie kritisierten die Stellvertreterpolitik durch Gewerkschafts- und Parteiführer und propagierten die direkte Aktion der unmittelbar Betroffenen. Folgerichtig lehnten sie zentralistische, hierarchische Organisationsformen in der Arbeiterbewegung ab, die nur den Staat kopieren, und setzten dagegen eine föderalistische Organisierung auf der Grundlage der freien Vereinbarung.

Sie waren nicht viele, öfters auch untereinander zerstritten. Aber – sie waren in der großen Mehrzahl Proletarier: Arbeiter, Angestellte, Lohnabhängige. Damit unterschieden sie sich nicht von ihren sozialdemokratischen Klassengenossen. Und wie diese standen sie unter strengster Beobachtung einer hochwohllöblichen Obrigkeit, die oft und gern repressiv wurde und Aktivisten in »Staatspension« (Gefängnis, Zuchthaus) verschickte. Und sie wurden erbittert bekämpft von der örtlichen Sozialdemokratie, die der ungeliebten Kritik von links tunlichst jede Möglichkeit nahm, sich öffentlich zu äußern – durch Sprengung von Veranstaltungen oder Verhinderung derselben (»Saalabtreiben« hieß das).

Paul Schreyer und der »Kampf«
Der Küper Paul Schreyer (geb. 1886 in Zahna, Preußisch Sachsen) entwickelte sich, seit er 1905 nach Hamburg zog, zu einem der treibenden Aktivisten des Anarchismus im Grossraum der Hansestadt. Auf seine Initiative wurde 1907 der Anarchistische Lese- und Debattierklub Hamburg-Altona gegründet, der sich im August 1908 der Anarchistischen Föderation Deutschlands (AFD) anschloss. 1909 spaltete sich der Leseklub auf Betreiben von Carl Langer (von dem noch zu reden ist). Die Mehrheit des Klubs gründete im September 1909 die Anarchistische Föderation Hamburg und Umgebung (AFH). Schreyer übernahm ab Januar 1911 die Geschäftsführung der AFH. Die Berliner Politische Polizei resümierte in ihrer Jahresübersicht für 1912: »Die Hamburger Föderation, deren Seele Schreyer ist, hat rege gearbeitet

Seit 1911 hatte die AFH eine eigene Druckmaschine, auf der Broschüren, Flugblätter und Postkarten gedruckt wurden (siehe die Anti-Wahl-Postkarte »Mitbürger, zur Wahl«). U.a. erschienen 1911 und 1913 Ausgaben von Johann Mosts »Die Gottespest« (im Kaiserreich verboten und deshalb mit den falschen Verlagsangaben ›New York‹ bzw. ›London‹).

Seit Mai 1912 gab Schreyer für die AFH die monatlich erscheinende Zeitschrift Kampf heraus, als »Unabhängiges Organ für Anarchismus und Syndikalismus«. Bis zum Juli 1914 erschienen 25 Ausgaben, mit einer Auflage zwischen 2000 – 4000 Exemplaren. Die Berliner Politische Polizei bescheinigte dem Kampf: »Sein Inhalt ist trotz grammatikalischer Mängel volkstümlich, erhebt sich nicht über das geistige Niveau des einfachen Arbeiters …«.

In den letzten Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges war Schreyer auch im deutschen Kaiserreich eine der bekannten Figuren in der anarchistischen Bewegung, für die er reichsweit als Agitator auftrat.
Paul Schreyer emigrierte vor Beginn des I. Weltkrieges in die Schweiz, um seiner Einziehung zum Militär zu entgehen. Der Kampf musste bei Kriegsbeginn natürlich sein Erscheinen einstellen.

Im Dezember 1914 erschien in Kopenhagen Schreyers Schrift »Die Sozialdemokratie und der Krieg«, eine gründliche Abrechnung mit (nicht nur) der SPD. Die Schweiz lieferte Paul Schreyer 1915 widerrechtlich an das Kaiserreich aus, wo er wegen ‚Fahnenflucht‘ in den Knast gesteckt wurde. Die folterähnlichen Haftbedingungen ruinierten seine Gesundheit gründlich. Er starb noch während des I. Weltkriegs, am 26. April 1918, im Festungsgefängnis Spandau an einer Lungenentzündung.

Die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG)
Die Freie Vereinigung ging aus der lokalistischen Opposition des Halberstädter Gewerkschaftskongresses 1892 hervor. Sie gab sich 1897 eine eigene organisatorische Struktur und verstand sich als militante sozialdemokratische Richtungsgewerkschaft mit föderalistischer Struktur. Es waren die lokalistischen Hafenarbeiter, die den großen Streik im Hamburger Hafen von 1896/97 organisierten.

Der wachsende Druck der Zentralgewerkschaften unter Carl Legien auf die SPD sowie die immer schärfere Kritik der FVdG an der Nutzlosigkeit der Parlamentarismus und die Propagierung des revolutionären Generalstreiks führte 1908 zum Ausschluss der Mitglieder der FVdG aus der SPD wegen »Anarcho-Sozialismus«. Die FVdG näherte sich in der Folge dem revolutionären Syndikalismus an, dessen Vorbild die französische CGT war. Aus ihr ging dann Ende 1919 die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) hervor, die zeitweilig bis zu 150.000 Mitglieder gewerkschaftlich organisierte.

Seit 1908 öffnete sich die FVdG den Anarchisten – nicht immer ganz konfliktfrei mit der ‚alten Garde‘ der FVdG, denen noch einige sozialdemokratische ›Eierschalen‹ anhafteten. Aber sie gab den Anarchisten der ‚Roten Hauptstadt‘ die Chance, ihre Isolation zu durchbrechen. Mit dem Kampf hatten sie eine eigene lokale Zeitung.

In Hamburg engagierten sich die Aktivisten der AFH stark in den lokalen Organisationen, die vor allem im Bereich der Transport-, Hafen und Werftarbeiter und der Berufe des Bauhandwerks und Dienstleistungssektors bestanden, sich zur Freien Vereinigung aller Berufe (seit 1913 Syndikalistische Vereinigung aller Berufe) zusammenschlossen und ein Gewerkschaftskartell mit einigen Fachverbänden und der Föderation der Metallarbeiter bildeten. Dem Kartell schloss sich der 1913 entstandene Syndikalistische Industrie-Verband an, der von Hafenarbeitern und Seeleuten gegründet worden war. Hamburg entwickelte sich so in den letzten Jahren vor dem 1. Weltkrieg zum norddeutschen Zentrum der FVdG mit bis zu 400 Mitgliedern.

Einer ihrer führenden Protagonisten war der 1862 in Königsberg in Ostpreußen geborene Bauhilfsarbeiter Karl Roche. Er kam 1887 zur SPD und hatte seit 1891 zuerst für den Fabrikarbeiter-Verband, dann für den Bauhilfsarbeiter-Verband als Organisator im Reich gearbeitet, zuletzt von 1907 bis 1909 als Bürohilfsarbeiter beim Hauptvorstand in Hamburg. Wegen verbandsöffentlicher Kritik am Hauptvorstand (u.a. Unterschlagungen von Mitgliedsbeiträgen durch den Hauptkassierer) wurde er 1909 gefeuert, worauf er zur FVdG übertrat. In deren Verlag erschien seine Abrechnung »Aus dem roten Sumpf«. Seitdem schrieb er regelmäßig in den beiden FVdG-Organen Die Einigkeit und Der Pionier und war 1913 einer der deutschen Delegierten auf dem 1. internationalen Syndikalisten-Kongress in London.

Der Syndikalistische Industrie-Verband organisierte auf der Jungfernfahrt des HAPAG-Ozeandampfers »Vaterland« (seinerzeit das größten Passagierschiff der Welt) nach New York einen Seeleutestreik. Diese Arbeitskampf wurde mit dem Mittel der direkten Aktion geführt und endete mit einem Sieg der Streikenden, aber auch der Entlassung von 240 Stewarts nach der Rückkehr. Über den Verlauf dieses Streiks berichtete die erste Ausgabe der im Juni 1914 erscheinenden neuen Gewerkschaftszeitung Der Revolutionär des Industrieverbands der FVdG. Auch sie fiel dem Kriegsausbruch zum Opfer.

Revolution und Konterrevolution
Nein, es waren nicht nur Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Nach dem Krieg traten auch die Syndikalisten wieder an die Öffentlichkeit und erhielten einen unerwartet großen Zustrom an neuen Mitgliedern. Die Einigkeit wurde in Der Syndikalist umbenannt. Der wichtigste und bekannteste Protagonist der FAUD/AS war der anarchistische Schriftsteller Rudolf Rocker in Berlin, der vor seiner Ausweisung 1918 in London den jüdischen Arbeiterwiderstand an vorderster Front organisiert hatte.
In Hamburg entstand die Syndikalistische Föderation (SFH), deren Geschäftsführer Karl Roche wurde, seit Juni 1918 auf der Vulcan-Werft zwangsverpflichtet. Ein Spitzelbericht im Oktober 1919 notierte: »Der Haupthetzer auf der Vulcanwerft ist der Syndikalist Roche. Sein Einfluss auf die Arbeiterschaft ist ungeheuer und mit Recht wird behauptet, dass er die Seele des verderblichen Widerstandes gegen Vernunft und Ordnung eines grossen Teils der Arbeiterschaft ist

Roche schrieb 1919 das erste Nachkriegsprogramm und weitere wichtige Texte der FVdG. Schon im Januar 1919 unternahm er zusammen mit Fritz Kater erste Agitationsreisen durch Norddeutschland, u.a. eine Veranstaltung am 16. Januar 1919 in der Aula des Wilhelm-Gymnasiums, heute Teil der Universitätsbibliothek Hamburg.

Die konterrevolutionäre Politik der MSPD und der ›freien‹ Gewerkschaften (ADGB) führte auch in Hamburg und Altona zur weiteren Radikalisierung: Nationalversammlung statt Rätekongress – Hintertreibung des Arbeiter- und Soldaten-Rates in Hamburg – Reförmchen statt Revolution – Betriebsrätegesetz statt Sozialisierung der Betriebe – und als Antwort auf den Arbeiterwiderstand erfolgte das Niederkartätschen durch die Reichswehr und reaktionären Freikorps-Verbände.

Der angebliche ‚Bahrenfelder Spartakisten-Aufstand’ vom Februar 1919 war der Versuch von radikalen Arbeitern unter Führung des Syndikalisten Rüdigkeit, Waffen in Polizeiwachen zu beschlagnahmen, um den Beschluß des Arbeiterrats umzusetzen, der Bremer Räterepublik zu Hilfe zu eilen. Aber die reformistischen Gewerkschaften sabotierten dies durch einen Reichsbahner-Beamten-Streik (!), und die bewaffneten Arbeiter konnten Bremen nicht mehr erreichen.

Wohl im Sommer 1919 trennte sich Roche mit der großen Mehrheit der SFH von der FVdG/FAUD und gründete die Arbeiter-Union (AU), die sich im Frühjahr 1920 mit ähnlich ausgerichteten Organisationen zur Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands (AAU) formierte. ‚Knackpunkte‘ waren wohl die Diktatur des Proletariats und das Prinzip der Betriebs-Organisation. Das erste, sehr föderalistische Programm der AAUD stammte von Roche (eine Fortschreibung des von ihm formulierten FVdG-Programms); er trat auch für die Vereinigung von AAU und FAUD ein.

Seitdem entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit der Hamburger KPD, die zum anti-parlamentarischen und für die Zerschlagung der kriegstreiberischen ›Freien‹ Gewerkschaften eintretenden Mehrheits-Flügel der KPD gehörte. Als dieser Ende 1919 aus der KPD herausmanipuliert wurde, entstand Ostern 1920 die Kommunistische Arbeiter-Partei (KAPD), die eng mit der AAU zusammenarbeitete. Die AAU hatte zu diesem Zeitpunkt in Groß-Hamburg 12.000 Mitglieder, meist im Hafen und auf den Werften. Seit 1920 erschien ihre Wochenzeitung Der Unionist mit Roche als Redakteur.

Roche gehörte 1921 mit Otto Rühle und Franz Pfemfert zu den Köpfen der Opposition, die nach dem Sieg der KAPD-Linie in der AAU die AAUE gründeten, die eng mit der FAUD kooperierte. Roche schloß sich Ende 1923 wieder der FAUD an und publizierte eifrig im Syndikalist. Er starb als »völlig verarmter Proletarier« (Rocker) am 1. Januar 1931 im Alter von 69 Jahren an einer Lungenentzündung.

Die Freien Sozialisten-Anarchisten
Aus der Anarchistischen Föderation Deutschlands war 1919 reichsweit die kleine und wenig aktive Föderation kommunistischer Anarchisten (FKAD) entstanden.

Anfang März 1919 erschien in Hamburg dann die erste Ausgabe der anarchistische Wochenzeitung Alarmmit einem ‚Aufruf für die Diktatur des Proletariats‘. Die Herausgeber, die Freien Sozialisten-Anarchisten, waren agitatorisch sehr aktiv und ermunterten die Erwerbslosen und Werftarbeiter immer wieder zu Aktionen.

Anfangs arbeiteten die verschiedenen Linksradikalen (KP, AAU, FAUD und Anarchisten) noch zusammen (und planten sogar Putsche oder gemeinsame Aufstände, wenn man den Spitzelberichten der Politischen Polizei glauben schenken will). Aber das politische Gewirr lichtete sich, denn die bolschewisierte KPD drängte mit ihren russischen Rubel-Millionen und Emissären (Radek) räte-kommunistische und anarchistisch-syndikalistische Gruppen an den Rand. In Hamburg entstand aus der Rest-KPD durch den Zusammenschluss mit Thälmanns USPD-Mehrheit eine völlig neue Situation. Gegner der Partei wurden als »Abhub«, »Verräter an der Einheit« und »Abschaum der Arbeiterklasse«, als kleinbürgerlich diffamiert und auch physisch bekämpft.

»Sülzeaufstand« und Lettow-Vorbeck
Der »Sülze-Skandal« im Juni 1919 führte zu tw. gewalttätigen Unruhen. Der Senat rief nach den Sülze-Kämpfen um das Hamburger Rathaus mit dem Bahrenfelder Freikorps den Ausnahmezustand aus, und der MSPD-Reichswehrminister Gustav Noske schickte den Afrika-Schlächter Lettow-Vorbeck zur Durchsetzung der Reichsexekution mit seiner Soldateska nach Groß-Hamburg; erst im zweiten Anlauf gelang es am 1. Juli 1919 die Stadt zu besetzen: seine Reichswehr- und Freikorps-Truppen setzten bei ihrem martialischen Einmarsch (»Fenster zu, Strasse frei.«) ausgiebig Waffengewalt ein, um »Plünderer und Heckenschützen« niederzustrecken, in den Arbeitervierteln galt »Schnelljustiz« (Standrecht). Arbeiter und Funktionäre wurden oft willkürlich verhaftet und misshandelt. Die Besetzung kostete 80 Todesopfer bis zum Abzug des Lettow-Korps im Dezember.

Hamburg war danach eine andere Stadt, denn es wurde die Volkswehr aufgelöst und eine militarisierte Sicherheitspolizei geschaffen, deren Mitglieder sich großenteils aus ehemaligen Berufssoldaten und Freikorpsangehörigen zusammensetzte.
Von der bürgerlichen Presse wurde das Gerücht verbreitet, es hätte sich um einen kommunistischen Revolutionsversuch handelt. Aber die Hamburger KPD erklärte öffentlich, nichts mit den Ausschreitungen zu tun zu haben. In der Kommunistischen Arbeiterzeitung veröffentlichte sie bereits am 25. Juni einen Aufruf, der die Genossen zur Ruhe ermahnte: »Die Kommunistische Partei, die mit diesen Tumulten nichts zu schaffen hat, fordert Euch auf, Euch von Ansammlungen fernzuhalten und nicht vor die Maschinengewehre zu laufen.« Und auch nach dem Einmarsch der Reichswehr hieß es dort: »Die Partei verwirft jeden Versuch, sich mit Waffengewalt dem Einmarsch der Regierungstruppen zu widersetzen.« – Nur die Freien Sozialisten forderten mit Plakatanschlägen am 26. Juni die Arbeiterschaft auf, ihre Waffen nicht zurückzugeben, sondern weiter für den Sozialismus zu kämpfen.

Kurt Wilckens und der Schlächter von Patagonien
Kurt Wilckens war dem Alarm um Carl Langer verbunden und verfasste Erfahrungsberichte zu seiner Zeit in die USA (war er Mitglied der der revolutionären GewerkschaftIndustrial Workers of the World (IWW) und als Minenarbeiter in Arizona aktiv an Streiks beteiligt), und nach seiner Auswanderung warnte er vor Argentinien. In Buenos Aires erschoss er am 15. Januar 1922 den berüchtigten Oberst Varela, der zuvor 1.500 Streikende in Patagonien niedermetzeln ließ. Vor seinem Prozess wurde der aus Bad Bramstedt stammende Anarchist in seiner Gefängniszelle am 15. Juni 1923 von einem studentischen Mitglied der faschistischen Patriotischen Liga erschossen. Auch einhundert Jahre nach seiner Tat wird Kurt Wilckens in Argentinien als proletarischer Held und Märtyrer von der organisierten Arbeiterschaft verehrt und ob seines Mutes und seiner Opferbereitschaft gewürdigt. Hierzu finden wir die Alarm-Postkarte aus dem Jahre 1925 (handschriftlich beschrieben von Carl Langer).
Die Freien Sozialisten glitten unter dem Einfluss ihres umstrittenen Führers Carl Langer in immer individualistisch-organisationsfeindlicheres Fahrwasser ab, sie verloren ihren aktivistischen Charakter und verkümmerten als unbedeutende Anarchistische FreibundVereinigungen. Der Alarm erschien bis 1925 teilweise unregelmäßig und 1930 noch einmal kurzfristig. Zeitweilig lag die Auflage dieser reichhaltig und informativ gestalteten Zeitung bei 6 000 Exemplaren, die auch auswärts und besonders im Rheinland gelesen wurde, da sich hier Carl Langers spezielles Agitationsgebiet befand.

Aktiv bis zur Zerschlagung durch den Nationalsozialismus
1924 initiierten Karl Roche und die Hamburger AAUE den Versuch, die Revolutionäre jenseits der KPD in einem Block antiautoritärer Revolutionäre reichsweit zu einen. Die Initiative hatte nur mäßigen Erfolg.
Ende Mai 1928 fand in Hamburg der FKAD-Kongress in Hüttmann’s Hotel in der Poolstrasse (Neustadt) statt. An der Diskussion nahm auch Karl Roche als Delegierter teil.
Auf dem 19. Reichskongress der FAUD im März 1932 wurden in Hamburg neben 24 Binnenschiffern nur noch 40 Mitglieder gezählt. Die FAUD beschloss vorausschauend ihre Auflösung angesichts des Nationalsozialismus. Eine letzte Anarchistenversammlung wurde am 21. April 1932 in Wilhelmsburg ausgehoben. In einer Mitteilung vom 18. September 1935 meldet die Gestapo, dass in Norddeutschland die FAUD »jede Tätigkeit eingestellt« habe. Das stimmte nur bedingt, denn es flüchteten einige Genossen nach Spanien, schlossen sich der Sozialen Revolution von 1936-39 an und zerschlugen die NSDAP-Auslandsorganisation in Barcelona. Andere wurden ermordet (wie etwa Erich Mühsam am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) oder kamen in Arbeitslager.

Der Anarchismus ist in Hamburg bis heute nicht tot, die Flamme ist nicht erloschen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Folkert Mohrhof | Jonnie Schlichting
Archiv Karl Roche – Regionales Archiv zur Dokumentation des antiautoritären Sozialismus – RADAS Hamburg

Quellen:
Akten aus dem Landesarchiv Berlin; Staatsarchiv Bremen; Staatsarchiv Hamburg
Materialien auf der Seite des Archiv Karl Roche
https://archivkarlroche.wordpress.com
Anarchopedia: Kurt Gustav Wilckens
http://deu.anarchopedia.org/Kurt_Gustav_Wilckens
Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993
Marina Cattaruzza, »Organisierter Konflikt« und »Direkte Aktion«. Zwei Formen des Arbeitskampfes am Beispiel der Werftarbeiterstreiks in Hamburg und Triest (1880 – 1914); in: Archiv für Sozialforschung, Bd. 20/1980
Dieter Fricke und Rudolf Knaack (Bearbeiter), Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878-1913. Teil III: 1906-1913, Berlin 2006
Michael Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886 – 1914, Göttingen 1984
Heidi Heinzerling, Anarchisten in Hamburg. Beiträge zu ihrer Geschichte 1890-1914; in: Hamburger Zustände. Jahrbuch zur Geschichte der Region Hamburg, Bd. 1, Hamburg 1988
Kampf. (Unabhängiges) Organ für Syndikalismus und Anarchismus (Hamburg)
https://archivkarlroche.wordpress.com/kampf-organ-fur-anarchismus-und-syndikalismus/
Fritz Kater, Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin 1912
https://archivkarlroche.wordpress.com/2022/05/17/grundung-der-fvdg-vor-125-jahren/
Ulrich Linse, Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin/W. 1969
Folkert Mohrhof, Der syndikalistische Streik auf dem Ozean-Dampfer ‘Vaterland’ 1914. (Archiv Karl Roche – Schriftenreihe # 1), Hamburg 2008
https://archivkarlroche.wordpress.com/2020/12/05/der-syndikalistische-streik-auf-der-vaterland/
Sven Philipski, Ernährungsnot und sozialer Protest. Die Hamburger Sülzeunruhen 1919. Hamburg 2002
http://www.kaufmann-stiftung.de/0904_Suelzeunruhen_K1.pdf
Karl Roche, Aus dem roten Sumpf oder Wie es in einem nicht ganz kleinen Zentralverband hergeht, Berlin 1909 – reprint Hamburg 2014 (Von unten auf)
Karl Roche, Sozialismus und Syndikalismus. Agitationsschriften aus dem Jahre 1919 (Archiv Karl Roche #2), Moers 2009 (Syndikat A)
Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarcho-Syndikalismus. Berlin/Köln 1994
Hartmut Rübner, Linksradikale Gewerkschaftsalternativen: Anarchosyndikalismus in Norddeutschland von den Anfängen bis zur Illegalisierung nach 1933; in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 14/1996
Paul Schreyer, Die Sozialdemokratie und der Krieg. Eine Zeit= – keine Streitfrage. Ein Wort an die Arbeiterschaft, Kopenhagen 1914
Institut für Syndikalismus-Forschung, Geschichte der syndikalistischen Arbeiterbewegung in Deutschland – Ein virtuelles Museum
http://www.syndikalismusforschung.info/museum.htm
Wayne Thorpe, The Workers Themselves. Revolutionary Syndicalism and International Labour 1913 – 1923, Dodrecht – Boston – London 1989

Zu den Bildern/Postkarten:
Mitbürger, auf zur Wahl! Postkarte der AFH, Mai 1913 ; auch im Kampf, Nr. 11, Mai 1913. Das Motiv wurde von der KAPD-AAU-KAJ Berlin 1922 wieder verwendet.
Die Wilckens-Postkarte des Alarm ist aus dem Jahre 1924. Sie ist von Carl Langer unterschrieben. (Pierre Ramus Papers im IISG; Nr. 1162.40).


Abkürzungen
AAU, AAUD: Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands
AAUE: Allgemeine Arbeiter-Union (Einheitsorganisation)
ADGB: Allgemeiner Deutscher Gewerkschafts-Bund
AFD: Anarchistische Föderation Deutschlands
AFH: Anarchistische Föderation Hamburg und Umgebung
AU: Arbeiter-Union (Hamburg)
FAUD: Freie Arbeiter-Union Deutschlands/Anarcho-Syndikalisten
FKAD: Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands
FVdG: Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften
IISG: Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam
IWW: Industrial Workers of the World
KAJ: Kommunistische Arbeiter-Jugend
KAPD: Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands
KP, KPD: Kommunistische Partei Deutschlands
MSPD: Mehrheits-Sozialdemokratische Partei Deutschlands
NSDAP: Nationalsozialistische Arbeiter-Partei Deutschlands
SFH: Syndikalistische Föderation Hamburg
SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands
USPD: Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

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